Mittwoch, 7. November 2012

Gödel und die Grenzen der Logik: Zur Bedeutung der Russellschen Antinomie

In Abschnitt 1.2.5 unserer Textgrundlage wird die „Grundlagenkrise“ thematisiert, die Betrand Russell durch seine „Antinomie“ auslöste.

Im Folgenden möchte ich kurz erklären, warum die Russellsche Antinomie nichts anderes sagt, als dass jede Mengenlehre, die das Axiomenschema der allgemeinen (oder „uneingeschränkten“) Komprehension umfasst, automatisch inkonsistent ist. Dies ist eine ganz und gar pragmatische Sicht der Dinge – genau richtig für unser Seminar. Der paradoxe Charakter der „Antinomie“ wird gewissermaßen entzaubert. In letzter Konsequenz warnt uns Russells Idee lediglich davor, zu starke Axiome in unsere (Mengen-)Theorien aufzunehmen, um diese nicht unmittelbar inkonsistent werden zu lassen.
Proposition. Im Sequenzenkalkül der Prädikatenlogik erster Stufe mit einer Signatur, die durch ein zweistelliges Relationensymbol $E$ gegeben ist, ist der Ausdruck \begin{equation}\forall y\neg \forall x(Exy \leftrightarrow \neg Exx) \label{e_0}\end{equation} ableitbar.
Beweisskizze. In einem ersten Schritt stellt man fest, dass sich für jede Formel $\alpha$ der Ausdruck $\neg(\alpha\leftrightarrow\neg\alpha)$ ableiten lässt, das heißt: \begin{equation}\vdash \neg(\alpha\leftrightarrow\neg\alpha).\label{e_1}\end{equation} Tatsächlich ergeben sich vermittels Fallunterscheidung und Modus ponens die Ableitungsbeziehungen \[(\alpha\rightarrow\neg\alpha) \vdash \neg\alpha\] und \[(\neg\alpha\rightarrow\alpha) \vdash \alpha.\] Damit ist klar, dass \[(\alpha \leftrightarrow \neg\alpha) \vdash \alpha,\neg\alpha\] und es folgt \eqref{e_1}.
Durch universelle Instanziierung haben wir: \[\forall x(Exy \leftrightarrow \neg Exx) \vdash (Eyy \leftrightarrow \neg Eyy).\] Zudem lautet \eqref{e_1} für $\alpha = Eyy$ speziell \[\vdash \neg(Eyy \leftrightarrow \neg Eyy),\] so dass wir auf \[\vdash \neg\forall x(Exy \leftrightarrow \neg Exx)\] schließen können. Universelle Generalisierung liefert die Ableitbarkeit von \eqref{e_0}. $\Box$
Folgerung. Jede Theorie, die das Axiomenschema der uneingeschränkten Komprehension enthält, ist inkonsistent.
Beweis. Uneingeschränkte Komprehension ($\mathsf{Kom}$) meint das Schema \[\exists y\forall x(Exy \leftrightarrow \phi),\] wobei $\phi$ eine Formel ist, in der die Variable $y$ nicht frei (oder strenger: gar nicht) vorkommt. Da für $\phi$ der Ausdruck $\neg Exx$ eingesetzt werden darf, haben wir \[\mathsf{Kom} \vdash \neg\forall y\neg\forall x(Exy \leftrightarrow \neg Exx).\] Schreibt man $\psi$ für den Ausdruck in \eqref{e_0}, so gilt gemäß unserer Proposition \[\mathsf{Kom} \vdash \psi, \neg\psi,\] also \[\mathsf{Kom} \vdash \beta\] für alle Formeln $\beta$ der Sprache. Dies zeigt die Inkonsistenz von Theorien $T$ mit $\mathsf{Kom} \subset T$. $\Box$

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

Schöner Eintrag, sehr geschätzter Herr Kollege. Die folgende Randbemerkung sei gestattet: im ersten Schritt der Beweiskizze verwendest du das Axiom vom ausgeschlossenen Dritten (EM). Meiner Einschätzung nach kann darauf verzichtet werden. Intuitionistisch kann man noch
\[(\alpha\rightarrow\neg\alpha) \vdash \neg\alpha\] sowie
\[(\neg\alpha\rightarrow\alpha) \vdash \neg\neg\alpha\]
zeigen. Für letztere Ableitung ist zu beachten, dass $\alpha \rightarrow \neg\neg\alpha$ ein intuitionistischer Satz ist.
Der Rest des Beweises kommt - soweit ich das überblicke - ohne EM aus, wobei noch zu bemerken ist, dass
\[ \exists y \psi(y) \rightarrow \neg \forall y \neg \psi(y) \]
die "intuitive" Richtung ist.